Wie mit digitalen Tools zeitgemäßer Unterricht gelingt

Bild: Philippe Wampfler. Lizenz: CC-BY 4.0

Philippe Wampfler ist Lehrer für Deutsch an der Kantonsschule Enge, Dozent für Fachdidaktik Deutsch am IFE der Universität Zürich, Kulturwissenschaftler und Experte für das Lernen mit Neuen Medien.

Gerade wird viel über Adjektive wie „digital“ und „zeitgemäß“ in Verbindung mit „Bildung“ diskutiert. Welche Rolle spielt diese Begriffsbildung für die konkrete und individuelle Weiterentwicklung von Lehr- und Lernszenarien?
Wenn man sich die Twitter-Community anschaut, muss man vielleicht eine soziologische Perspektive einnehmen und sich fragen: „Was ist das Ziel der Leute, die dort aktiv sind?“. Diese Begriffsabgrenzungen kann man vielleicht als ein Kampf um die Deutungshoheit bezeichnen. „Diese Begriffsabgrenzungen kann man vielleicht als ein Kampf um die Deutungshoheit bezeichnen.“ Nach dem Motto: Ich bin jetzt die Person, die sagen kann, was der Begriff bedeutet. Ich bin sehr wichtig, ich habe Einfluss auf diese Thematik. Man kann gerade ein gewisses Gerangel darum beobachten, bei Projekten, bei Publikationen die Person zu sein, die für digitale Bildung sprechen kann. Denn da ist recht viel Geld und Aufmerksamkeit vorhanden. Man möchte gerne sich und seine Projekte so platzieren, dass sie auch gesehen werden. Wenn jetzt die eigenen Begriffe nicht mehr so gut laufen, dann gibt es da diese Reflexe zur Abgrenzung. Ich glaube, das bringt manchmal die Aggressivität und Polemik in die Debatte. Andererseits macht es auch die einzelnen Ziele klarer, das, was die Protagonisten wollen. Die Ziele sind sicher unterschiedlich, aber wenn diese erste Positionierung gemacht wurde, dann führt die Diskussion durchaus zu konstruktiven Auseinandersetzungen.

Was ist zeitgemäße Bildung? „Momentan wird Bestehendes nur digitalisiert. Es wird wenig infrage gestellt.“ - Dejan Mihajlovic im Interview

Hilft die Begriffsbildung den Lehrenden in der Praxis?
Es geht auch darum, die eigenen Argumente zu prüfen und dadurch zu stärken. Das ist vielleicht auch wieder so eine psychologische Ebene, dass die meisten Leute, die an dieser Schnittstelle arbeiten, in den Schulen oder Institutionen häufig Einzelkämpfer sind. Dort müssen sie ganz viel Überzeugungsarbeit leisten, weil Argumente kommen wie: „Ich habe ohnehin schon viel zu tun, es gibt Wichtigeres. Jetzt müssen wir erst mal schauen, dass die Schüler*innen lesen und schreiben lernen. Warum sollten wir da mit digitalen Medien arbeiten?“. Es kommen also oft Argumente, die verhindern, dass über das Wesentliche gesprochen wird. Im Netz findet man dann Gleichgesinnte, mit denen man sich austauschen kann und die Unterstützung bieten. Man bekommt auch die Aufmerksamkeit, die man in der eigenen Institution vielleicht nicht kriegt oder die dort eher negativ ausfällt.

Du ordnest dich eher dem Lager „zeitgemäßer“ Bildung zu. Im Netz gab es immer wieder Fragen, wie der Ansatz konkret aussehen kann. Wie setzt du ihn in deinem Unterricht um?
Ich mache Babysteps. Es ist nicht so, dass die Lernenden, mit denen ich zu tun habe, dass die völlig aufgeschlossen sind und ich sie komplett prägen kann. Sie sind in einer Schulkultur groß geworden. Ich kann jetzt nicht plötzlich sagen: „Wir werfen das alles über den Haufen, jetzt wird zeitgemäß gelernt!“ Es wäre ja auch vermessen zu sagen, dass das, was die Kollegen machen, nicht mehr zeitgemäß ist.

„Es gibt von mir keine Beurteilung, ohne dass sich die Lernenden selbst beurteilen.“

Was ich grundsätzlich mache ist, dass ich neue Lehr- und Lernformen ausprobiere und mit den Schülern und Schülerinnen darüber spreche, wie sie bei ihnen ankommen, was sie von ihnen mitnehmen. Gleichzeitig binde ich sie ein in Beurteilungsprozesse. Es gibt von mir keine Beurteilung, ohne dass sich die Lernenden selbst beurteilen. Das Ziel ist, dass sie selbst wissen, wie gut sie sind, wie weit sie gekommen sind und meine starke Außensicht nicht mehr benötigen. Es geht darum, den Schülern und Schülerinnen zu signalisieren, dass sie die Verantwortung für ihr Lernen übernehmen sollten. Von vielen Vorgaben, die es in der Institution Schule gibt, kann ich mich allerdings nur bedingt entfernen.

Das ist eine schöne Haltung. Hast du auch Methoden oder Formate, die du für die Vermittlung konkreter Themen einsetzt?
Was ich an der Schule und mit Studierenden immer wieder mache, sind Blogprojekte. Also Phasen, wo Lernende zu einem bestimmten Thema selbst einen Blog eröffnen und führen. Das ist einerseits, aus der Sicht der Schreibdidaktik, sehr zeitgemäß. Denn die Schüler*innen schreiben viel und auch anders, weil es halböffentlich ist und sie wissen, dass es ein Publikum gibt, das mitliest und Feedback geben kann. Gleichzeitig hat man dann so etwas wie ein Portfolio. Das ist für viele Lernende ein Ort, den sie nach Abschluss des Projektes weiterverwenden, wo sie Texte zu anderen Projekten publizieren. Diese Erfahrung mal gemacht zu haben: Ich kann einen Blog eröffnen, ich weiß, mit welchen Reaktionen ich zu rechnen habe, wer da mitliest, wie ich mehr Aufmerksamkeit bekomme oder wie ich auch Dinge verstecken kann. In Bezug auf das zeitgemäße Lernen läuft da sehr viel ab. Andererseits ist nachzufragen, um zu zeigen: Ich bin an eurem Lernen interessiert. Ich kann euch nicht sagen, wie ihr lernt, sondern ihr müsst das selber beobachten. Sagt mir, wann ihr gut und wann ihr schlecht lernen könnt. Ich möchte also zeigen, dass ich keine Person bin, die Vorgaben macht, sondern eine, die unterstützen möchte.

„Der Einsatz von neuen Medien ist immer noch stark instruktionistisch geprägt.“

In einem Blogartikel sprichst du das SAMR-Modell an - es stellt Phasen der Integration von Lerntechnologien dar. Beschreibt es für dich eine zeitgemäße Einbindung von digitalen Tools?
Ja und nein. Ich würde sagen: Zeitgemäß daran ist, dass es das Mitdenken von althergebrachten Prozessen und Aufgaben beinhaltet, sie so zu digitalisieren, dass das Ziel dabei die Frage ist, wie daraus neue Aufgaben, neue Prozesse entstehen können. Das SAMR-Modell gibt bei der Digitalisierung von Bildung also eine Orientierung. Es geht in die richtige Richtung, zu sagen: Wir setzen jetzt schon mal Prozesse und Aufgaben um, die wir verstehen, die wir gut kennen und das Ziel ist dann, darüber hinauszugehen. Der Einsatz von neuen Medien ist immer noch stark instruktionistisch geprägt, sodass eine Lehrperson Inhalte kurratiert und aufbereitet und anschließend präsentiert und vermittelt. Das Ziel ist aber, dass Wissen nicht mehr vermittelt, sondern, dass Wissen von den Lernenden gefunden wird, das zu dem passt, woran sie gerade arbeiten. Aktuell machen alle immer noch dasselbe zur selben Zeit. Das Neue sind dann individuelle Lernwege. Das ist auch das Ziel des SAMR-Modells und das finde ich zeitgemäß.

Das SAMR-Modell, illustriert von Sylvia Duckworth, übersetzung von Ekkehard Brüggemann. Lizenz: © Sylvia Duckworth

Nicht so zeitgemäß ist der ganze Medienbegriff dahinter, die Vorstellung, dass Medien Werkzeuge sind. An der Schule gibt es Tablets oder Laptops und die benutzt man dann, um einen Mehrwert zu generieren. Aber durch neue Medien ändert sich die ganze Kommunikation, es ändert sich die Sicht auf die Welt. Dadurch verändert sich auch welche Kompetenzen relevant sind und was Lernen bedeutet. Diese umfassendere Sicht auf Medien fehlt in diesem Modell ein bisschen. Also die Tatsache, dass wir nicht mehr in einer Welt leben, in der die Dinge dasselbe bedeuten, weil Kommunikation schon grundlegend anders funktioniert. Wenn ich mit digitalen Medien selber Aufgaben reproduziere, dann haben sie einen anderen Wert, weil ich das ganze mediale Umfeld verändert habe.

Wie unterscheiden sich die Phasen, sprichst du einer oder mehreren besondere Wichtigkeit zu?
Ich denke, die interessanten sind die beiden rechten Phasen, „Änderung“ und „Neubelegung“ - wie das in der deutschen Übersetzung heißt. Das sind für mich die entscheidenden Schritte: Traut man sich wirklich weiterzugehen und weiterzudenken? Das unterscheidet Menschen, die wirklich an zeitgemäßer Bildung interessiert sind von denen, die einfach nur Geräte benutzen wollen.

„Das unterscheidet Menschen, die wirklich an zeitgemäßer Bildung interessiert sind von denen, die einfach nur Geräte benutzen wollen.“

Gibt es konkrete Szenarien, die in Bezug auf die Phasen weniger gute Beispiele sind?
Nehmen wir ein klassisches Lehrbuch, mit Aufgaben, Quellen und Theorie - wie man es von Schulbuchverlagen kennt. Der erste Schritt ist, dass das Buch als PDF auf einem Tablet angeschaut wird. Aber jede digitale Seite entspricht der gedruckten Seite. Es ist nichts wirklich verändert worden. Das wäre die konkrete Ersetzung des Buches auf Papier. Die Erweiterung ist dann, dass es ein paar interaktive Videos gibt oder Lösungen, die direkt geprüft werden. Das machen die Schulbuchverlage auch schon ganz gut. Die Umgestaltung wäre aber dann die, dass man sagt: Wir brauchen kein Lehrbuch, denn wir machen das Lehrbuch im Unterricht selbst. Das ist eine Idee, die aus der agilen Didaktik kommt.

Beispielsweise stoßen wir auf ein Problem und überlegen uns im Geschichtsunterricht „Wie sah es damals im Mittelalter aus?“ und suchen uns dann gute Darstellungen zu dieser Frage. Anschließend gibt es in der Klasse zehn Bilder und sie diskutiert Fragen wie: „Ist das eine gute Quelle, woher kommt das Bild?“, „Welches stellt die Antwort auf die Frage am besten dar?“ Das wäre ein völlig anderer Prozess mit Quellen umzugehen, weil wir sagen: „Du kannst selbst nach Quellen suchen und beurteilen, was für dich eine hinreichende Darstellung ist.“ Anschließend wird daraus ein Script gemacht - beispielsweise durch einen Blog - und beschrieben, wie die Lernenden darauf gekommen sind und welche Erkenntnisse daraus gezogen wurden. Das ist ein anderes Verfahren als das, was abläuft, wenn ein Verlag mit Fachleuten ein Buch herausgibt, welches dann den Unterricht prägt.

Lernende der Kantnosschule Wettingen veröffentlichen eigene Schul-News auf YouTube

Du hast es zwar schon angedeutet, aber: Welche konkreten Ansätze stechen für dich besonders positiv heraus?
Eine Idee, die ich besonders zeitgemäß finde, ist die, dass Lernende eigenständige News-Beiträge erstellen und über YouTube veröffentlichen. Das ist ein Projekt, was ich auch schon selbst durchgeführt habe und auch von anderen Schulen umgesetzt wird. Das Ziel ist ein zeitgemäßes Videoformat herzustellen. Daraus resultiert etwas, das von Jugendlichen sehr stark akzeptiert wird, weil sie das Medium kennen. In solchen Projekten können sie dieses Medium nutzen, um etwas zu vermitteln, das sie selbst verstanden haben.

„Ich lasse mich lieber inspirieren.“

Aktuell arbeiten wir gemeinsam mit der edulabs-Community an einer Plattform, die das Finden von zeitgemäßen und freien Unterrichtsideen erleichtern soll - durch redaktionelle Empfehlungen und eine Reihe von Filterkategorien.
Was machen für dich gute Unterrichtsmaterialien aus?
Das sage ich jetzt aus meiner ganz eigenen Perspektive, aus der Sicht meiner Bedürfnisse: Was ich nicht so mag sind fertige PDFs, die ein fertiges Layout haben, in denen alle Fragen vorgefertigt sind. Ich lasse mich lieber inspirieren. Was ich also gerne habe sind Quellen, die für mich eine Inspiration sein können. Zum Beispiel Texte, die ich im Unterricht verwenden kann, zu denen ich dann meine eigenen Fragen formuliere. Gute Videos oder Übungen mag ich auch. Ich finde es hilfreich, wenn gutes Material erschlossen wird. Bild: Vorschau auf die neue Sammlung für OER-Unterrichtsideen

Aber mir ist auch bewusst, dass ich bereit bin Transfer zu leisten. Bei Fortbildungen merke ich, dass diesen Transfer nicht alle leisten wollen. Es gibt ein Lager, das gerne Materialien hat, die sie genau so im Unterricht einsetzen können. Aber es ist sehr schwierig solches Material zu schaffen. Denn es gibt zwischen den Schulen und Lehrplänen sehr viele Unterschiede. Deswegen gibt es von jedem Lehrmittel zwanzig Ausgaben in Deutschland. Das kann eine Plattform wie diese schwer leisten.

Was erwartest du dann von einer solchen Plattform?
Es ist sehr wichtig, dass es sowas gibt. Die Schwierigkeit ist, dass sich eine konstante Community entwickelt, die wirklich auch darauf zugreift. Ich würde schon sagen, dass diese Kuratierung das Modell der Zukunft ist. Das man Dinge nicht selbst noch einmal neu macht, sondern sichtbar für andere. Auch die Filterkategorien finde ich ganz wichtig, um zu sehen, was zum eigenen Unterrichtsfach, zur eigenen Schülergruppe passt. Wirklich wichtig ist die Klarheit der Nutzungsrechte. Dass auf einen Blick sichtbar wird, was mit den Materialien gemacht werden darf, ohne sich in die Feinheiten der CC-Lizenzen einlesen zu müssen.

Kommentare
Beat Rüedi

Beat Rüedi

Liest man sich durch die http://unterricht.phwa.ch/blogs-n1c/, merkt man schnell, grad so wie Wampfler selbst, dass er auch nur mit Wasser kocht. Zudem befürchte ich, dass dies der einzige Kommentar zu diesem Interview bleibt.

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