„Beteiligung ist eine Selbstwirksamkeits­erfahrung“ - Marina Weisband im Gespräch

Bild: Stephan Roehl. Lizenz: CC BY-SA 2.0

Partizipation durch Liquid-Democracy
Alexa Schaegner im Interview zum aktuellen Stand von aula

Marina Weisband ist Diplom-Psychologin und in der politischen Bildung aktiv. Auch tritt sie regelmäßig als Rednerin in den Bereichen politische Partizipation, Privacy, digitale Gesellschaft, Medien und Krisen auf. Gemeinsam mit Alexa Schaegner und Daniel Schumacher koordiniert und gestaltet sie das aula-Projekt zur Schülerpartizipation. Im Interview spricht Marina über die Rolle und die Gestaltung politischer Bildung.

„Beteiligung ist eine Selbstwirksamkeits­erfahrung.“

Was bedeutet für dich der Einzug der AfD in den Bundestag?
Es ist ein klarer Weckruf, wobei ich auch schon vorher die Rolle der politischen Bildung als elementar kommuniziert habe. Ich glaube, dass der Einzug der AfD kein Aufstand der Abgehängten und Ungebildeten ist, worauf er oft reduziert wird. Der Grund ist eher mangelnde Beteiligung. Denn Beteiligung ist eine Selbstwirksamkeitserfahrung. Das heißt, wir müssen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mehr Verantwortung für die Gesellschaft geben. Indem sie Verantwortung haben, lernen sie die entsprechenden Kompetenzen. Sie lernen Konsequenzen bis zu ihrem Ende zu berücksichtigen. Sie lernen, warum es Dinge wie Minderheitenschutz und Solidarität braucht. Das lässt sich nicht rein theoretisch erklären. Dass die AfD jetzt eingezogen ist, zeigt, wie unglaublich dringend dieses Thema ist.

Das heißt wir brauchen direkte Demokratie?
Ich bin keine Unterstützerin umfassender direkter Demokratie. Eine komplett direkte Demokratie bevorteilt oft eine Elite - Menschen, die Zeit dafür haben, sich an allem zu beteiligen. Ich glaube, dass dann die benachteiligt sind, die eine Familie großziehen und arbeiten. Ich finde auch nicht, dass das ganze Leben Politik sein sollte. Deshalb bin ich eine Anhängerin liquider demokratischer Prozesse. Menschen sollten sich entscheiden können, wie aktiv sie in der Politik sein möchten. Wenn sie es nicht sein wollen, wenn sie die Zeit nicht haben oder den Wunsch, sich in komplexe Themen einzuarbeiten, darf ihre Stimme nicht verloren gehen. Sie müssen die Möglichkeit haben, jemanden zu beauftragen für sie abzustimmen. Das ist auch eine Form von Beteiligung, das ist auch eine Form der Verantwortung, genau wie es auch Wahlen sind.

„Deswegen bin ich auch kein Fan von Volksentscheiden, weil sie nicht das Element der Debatte in sich tragen.“

Der Diskussionsprozess sollte im Mittelpunkt stehen. Deswegen bin ich auch kein Fan von Volksentscheiden, weil sie nicht das Element der Debatte in sich tragen. Sie sind nur eine Wahlmöglichkeit definierter Alternativen. Die Debatte ist im Sinne der politischen Bildung das zentrale Element. Wenn ich sage „mehr Beteiligung“, dann meine ich in erster Linie auch mehr Beteiligung an einer Debatte.

Gerade arbeitet ihr an Materialien zur politischen Bildung und Liquid Democracy. In einem Artikel zu den vier Kompetenzen hast du von Hemmungen gesprochen, die die Schüler*innen haben, eigene Ideen zu entwickeln. Wie fördert ihr das in den neue Materialien?
Diese vier Kompetenzen - Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken - sind Teil eines Katalogs an Fähigkeiten, die mit aula gefördert werden können. Wir entwickeln zu jeder dieser Kompetenzen einige Schritte oder auch Unterrichtsmaterialien. Zum Beispiel ist das kritische Denken immer das Hinterfragen einer neuen Idee. Dazu haben wir eine ganze Reihe an Fragen, die man an eine Idee formulieren kann, wie: Wem nützt sie? Wer ist von ihr benachteiligt? Wie hoch sind die Kosten? Es geht darum, alle Konsequenzen zu denken.

Die Beobachtung, dass es Hemmungen gibt, Ideen zu entwickeln, habe ich insbesondere bei den älteren Schüler*innen gemacht. Die 5. und 6. Klässler rennen mir die Bude ein mit Ideen. Die 7. und 8. Klässler sind auch noch sehr kreativ. Aber ab der 9. und 10. Klasse beginnen sie sehr vorsichtig zu werden und im konservativen Sinne realistisch zu denken. Ich glaube, dass das mit einer gewissen Frustration zusammenhängt, die man aufbaut, je länger man in einem relativ autoritären System wie dem der Schule ist. Desto mehr sagen die Schüler*innen: „Die Lehrer*innen machen doch eh was sie wollen, das kommt doch nicht durch.“ Sie werden vorsichtiger und die Fähigkeit zur Kreativität und zum gestalterischen, visionären Denken geht ein Stück weit abhanden. Einfach, weil sie diese Fähigkeit nicht so oft gebraucht haben.

Was wir versuchen, ist durch Brainstorming-Übungen, durch das gezielte Öffnen der Grenzen - „stellt euch vor es gibt keine Grenzen“ - diese Fähigkeit zu reaktivieren. Es sind auch Filmvorführungen angedacht, in denen wir völlig andere Schulformen zeigen, Filme über Schulen in anderen Ländern, über Modellschulen. Dadurch sehen die Schüler*innen: Auch das kann Schule sein.

Bild: Unterricht an einer aula Projektschule in Freiburg: Daniel Schoenen. Lizenz: CC-BY 4.0

Was ist zeitgemäße Bildung? „Momentan wird Bestehendes nur digitalisiert. Es wird wenig infrage gestellt.“ - Dejan Mihajlovic im Interview

Wir haben in anderen Interviews über die Rolle digitaler Tools gesprochen. Wie schätzt du sie für die politische Bildung, für eure Arbeit ein?
In erster Linie ist aula das Gesamtkonzept. Die Plattform, die wir nutzen, ist ein Werkzeug. Es protokolliert, macht die Debatte für alle transparent und nachvollziehbar und es versetzt alle in die Lage, aktiv daran teilhaben zu können. Das Werkzeug vernetzt Schüler*innen, die sonst vielleicht nie miteinander arbeiten oder sprechen würden. So können Schüler*innen vollig verschiedener Klassen plötzlich miteinander kommunizieren, was im Alltag nicht unbedingt passiert. Es ist auch ein niedrigschwelliger Zugang für Schüler*innen, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist. Die dann in Ruhe zuhause mit Übersetzern ihre Gedanken schriftlich formulieren können. Insgesamt ist es ein Tool, um eine Debatte zu strukturieren. Ich glaube, dass ohne digitale Software aula in dieser Form nicht möglich wäre. Und dennoch lässt sich der Prozess nicht auf eine Tool-Ebene reduzieren.

Welche Rolle spielt dabei technisches Wissen? Brauchen wir im Hinblick auf Netzneutralität, Big Data und künstliche Intelligenz nicht auch technisches Wissen, um uns politisch beteiligen zu können?
Wir sehen es natürlich auch als unseren Auftrag an, dadurch, dass wir digital arbeiten, auch die Nutzungskompetenzen und die Wissenskompetenzen zu Bestandteilen des Unterrichts zu machen. Wir schreiben gerade an einem Unterrichtskonzept zu dem Thema, das im Rahmen von aula angewendet werden kann. Aber auch schon bei der Einführung von aula besprechen wir mit den Schüler*innen ganz basale Dinge im Umgang mit Onlineplattformen. Wir besprechen Datensicherheit, Nutzungsrechte und immer wieder die Tatsache, dass auf der anderen Seite der aula-Kommunikation ein Mensch sitzt. Das ist recht kompliziert, aber eines der größeren Probleme bei Onlinediskussionen. Es geht um das tiefe Verständnis, dass ich, obwohl ich mich alleine in meinem Zimmer vor einem Bildschirm befinde, trotzdem Teil einer sozialen Interaktion bin und damit in der Lage, jemanden zu verletzen. Das ist auch ein ganz entscheidender Schritt zur Prävention von Cybermobbing.

Natürlich kann aula nicht alle Themen abdecken. Aber weil man mit aula online arbeitet, sind technische Fragen immer wieder Thema. So kommt man auch ins Diskutieren und es entstehen Ideen zur Infrastruktur, zur Nutzung von Smartphones. Beispielsweise haben sich die Schüler*innen dafür eingesetzt, in Freiburg einen Smartphone Tag einzuführen. Also einen Tag, an dem die Lehrenden gezwungen sind, das Smartphone in ihren Unterricht einzubinden. Die Lehrenden waren davon erst mal völlig überrumpelt. Dann hat ein Lehrer der Schule ein Pad aufgesetzt, in das Pädagog*innen aus ganz Deutschland Ideen eingestreut haben, wie in welchem Unterricht das Smartphone eingesetzt werden kann.

„Das Erlernen der Grundfähigkeiten muss immer vor der Virtualisierung dieser Grundfähigkeiten stattfinden.“

Bisher haben wir über positive Möglichkeiten gesprochen, Technik einzusetzen. Wie sieht es aus mit dem Zuviel?
Das eine, was ich immer betone, ist, dass aula nicht nur eine Plattform ist. Sondern aula ermöglicht in erster Linie das Debattieren, insbesondere auch offline. Das Zweite ist: Ich wurde jetzt schon öfter gefragt, aula auch für den Grundschul- und Kindergartenbereich zu adaptieren. Da sehe ich ganz klar die Grenzen des Digitalen. Weil ich selber keine Verfechterin davon bin, dass Kinder und vor allem Kleinkinder einer digitalen Umwelt begegnen sollten, die etwas abbildet oder virtualisiert, dass sie in der analogen Welt noch nicht erfahren haben. Das heißt, wenn sie nicht die Tradition der Diskussion im analogen Bereich kennen, dann sollten sie nicht im Digitalen damit einsteigen. Das Erlernen der Grundfähigkeiten muss immer vor der Virtualisierung dieser Grundfähigkeiten stattfinden. Für den Bereich der Jüngeren müsste man das System viel stärker adaptieren und an den haptischen Bereich anpassen. Das bedeutet nicht, dass ich für ein Verbot von digitalen Tools in der Grundschule bin. Man muss sie einfach nur gezielt einsetzen.

Was das Digitale auch ermöglicht, sind OER, dass Bildungsmaterialien nachnutzbar zur Verfügung stehen. Du warst eine Zeit lang bei der Piratenpartei, daher hast du dich sicherlich auch mit Open Source beschäftigt. Was kann freie Bildung von dieser Bewegung lernen?
Ich denke, es ist ein strukturelles Problem, das seine Zeit benötigt. Wir stellen Materialien nachnutzbar zur Verfügung. Das bedeutet nicht, dass Lehrende die Kompetenzen mitbringen, sie tatsächlich an die eigenen Bedürfnisse anzupassen oder im Falle von Software selbst zu hosten. Wenn wir offene Software haben und zur Verfügung stellen, braucht es eine Community, die darauf guckt und in der Lage ist, diese Software auch anzupassen, wenn eine Schule oder eine andere Umgebung spezielle Anforderungen daran hat. „Open Source bedeutet auch Verantwortung zu übernehmen und Inhalte kritisch zu überprüfen.“ Was ich auch aus der Zeit bei der Piratenpartei mitgenommen habe ist, dass Open Source nicht bedeutet, dass etwas zwangsläufig sicherer oder wahrer ist, weil es sich mehr Menschen angeschaut haben. Nur weil es jeder tun kann, heißt das nicht, dass es auch gemacht wird. Open Source bedeutet auch Verantwortung zu übernehmen und Inhalte kritisch zu überprüfen.

Inzwischen gibt es viele schöne Open Source Lösungen, aber demgegenüber nicht unbedingt mehr Institutionen oder Personen, die sie einsetzen. Stattdessen drängen große Softwarehersteller in das Schulsystem. Wie lässt sich dieser Trend erklären?
Dahinter stecken zwei Probleme: Das eine ist, dass die großen Unternehmen Know How liefern, Service drumherum - das, was Open Source Projekte oft nicht mitbringen. Das Zweite ist, dass Lehrerinnen und Lehrer kaum im Umgang mit digitalen Medien geschult werden und wir haben auch kaum eine Konnektivität zwischen der Open Source Community und der Lehrerausbildung. Da gibt es bisher nur einzelne Personen, die an dieser Schnittstelle aktiv sind.

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