Was ist zeitgemäße Bildung?

Bild: Dejan Mihajlovic. Lizenz: CC-BY 4.0

Dejan Mihajlovic ist Lehrer und unterrichtet Chemie, Geschichte, Mathematik und Ethik an der Pestalozzi Realschule in Freiburg. Außerdem engagiert er sich in zahlreichen Initiativen sowie in der Lehrerfortbildung. Über seinen Blog und Twitter-Kanal gibt Dejan immer wieder Impulse zur Diskussion um zeitgemäße Bildung.

Dejan, du hast gerade einen Artikel zum Begriff #zeitgemäßeBildung veröffentlicht. Ich denke, dass vielen Menschen sehr unterschiedliche Aspekte dazu einfallen. Was ist aus deiner Sicht der Kern des Begriffes?
Zeitgemäße Bildung umfasst nicht nur ein anderes Lehr- und Lernverständnis, sondern auch ein anderes Verständnis von Gesellschaft. Sie orientiert sich an dem, was gerade zeitgemäß ist. Zum Beispiel die Art unserer Kommunikation, die eine andere ist, wie sie vor 30 Jahren war. Dieser digitale Wandel, der dahinter steckt, hat natürlich auch unsere Kultur verändert. Wir müssen diesen Wandel in allem berücksichtigen, was unter Bildung abläuft. Kommunikation ist nur ein Aspekt. Andere sind Partizipation oder kritisches Denken. Es ist schwierig, zeitgemäße Bildung in zwei Sätze zu packen, weil sie alle Lebensbereichen durchdringt. Sie erfordert eine Haltung, die verlangt, alles was da ist, zu reflektieren und zeitgemäß anzupassen. Partizipation durch Liquid-Democracy
Alexa Schaegner im Interview zum Projekt aula

Alexa, die Koordinatorin des Projektes Aula, hat es in unserem Interview so zusammengefasst: „Zeitgemäße Bildung ist etwas, das den Fokus weg von Tools und Methoden lenkt und auf den Erwerb notwendiger Kompetenzen richtet.“
Ja, da stimme ich zu. Ich finde aber nicht, dass wir mit zeitgemäßer Bildung einen Gegenpol schaffen sollten. Mit meinem Artikel wollte ich die Richtung hervorheben, in die es gehen sollte, in die es aktuell nicht geht. Momentan wird Bestehendes nur digitalisiert. Es wird wenig in Frage gestellt. Das ist etwas, was mir fehlt. Die Tools sind greifbar und damit verständlicher. Deshalb vereinnahmen sie aus meiner Sicht zu viel Aufmerksamkeit. Zu reflektieren ist hingegen abstrakt und kognitiv. Es müssen Fragen gestellt werden, wie: Was heißt das eigentlich, Kommunikation? Welche Bedeutung hat sie im Bereich der Zusammenarbeit? Welche Ziele möchte ich anstreben? Um solchen Fragen auf den Grund zu gehen, müssen wir uns gemeinsam hinsetzen und austauschen. Das findet aber kaum statt, weil es anstrengend ist, weil es ein langer Prozess ist, der auch gewollt sein muss. „Momentan wird Bestehendes nur digitalisiert. Es wird wenig in Frage gestellt.“

Das heißt der Begriff zeitgemäße Bildung lenkt den Fokus auf die Reflexion?
Ja genau. Natürlich ist er nicht losgelöst von der ganzen Technik, sie ist Teil davon, sie ist die Legitimation. Der Fokus darf nur nicht auf der Technik hängen bleiben. Ich selbst brauche auch nicht die ganzen Tools, um mir Gedanken über das Problem und die Notwendigkeit bestimmter Tools machen zu können. Wenn gerade das Geld für technische Anwendungen fehlt, sollte uns das nicht daran hindern, Bildung zeitgemäß zu reflektieren und umzusetzen. Es lässt sich viel auch ohne Technik ändern.

Stichwort „notwendig“: Wie gehst du selbst in deinem Unterricht vor, um zeitgemäße Bildung umzusetzen?
Ich überlege mir, was ich brauche, um bestimmte Dinge umzusetzen und schaue mir dann an, was da ist. Daraus resultiert in der Regel, dass ich manches umsetzen kann und anderes nicht. Wenn es zum Beispiel in der zehnten Klasse auf die Prüfungen im Fach Mathe zugeht, sind die Freiräume relativ klein. Wenn es hingegen eine achte Klasse ist oder das Fach Ethik, habe ich viel mehr Spielraum. Heute habe ich mir zum Beispiel eine Vertretungsstunde überlegt, für den Fall, dass ich einspringen muss. Das Thema war die Behauptung der AfD auf facebook, dass auf dem Oktoberfest weniger los ist, als im letzten Jahr. In der Vertretungsstunde würde ich das Thema diskutieren und Fragen, wie mit solchen Falschnachrichten umzugehen ist. Also die Frage, die uns Erwachsene auch beschäftigt. Für solche Themen suche ich mir immer Artikel, die die Faktenlage aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten und diskutiere mit den Schüler*innen dann diese Positionen. Das ist auch inhaltlich nicht immer etwas, das fest im Curriculum enthalten ist und auch nicht enthalten sein kann, weil es gerade passiert.

Bild: Dejan Mihajlovic während des Unterrichts: Daniel Schoenen. Lizenz: CC-BY 4.0

Es ist auch wichtig, Freiräume für die Probleme der Schüler*innen zu geben. Zum Beispiel hatte ich heute eine 8. Klasse. Ich habe den Schüler*innen gesagt, dass sie jederzeit ein Referat zu einer Frage halten können, die sie beschäftigt. Die einzige Auflage ist, dass das Thema naturwissenschaftlich sein muss. Am Beispiel des Handys habe ich dann gezeigt, wie schnell es aber auch Schnittmengen mit anderen Fächern geben kann. Wenn man sich beispielsweise fragt, wo die verarbeiteten Metalle herkommen. Anhand dieses Themas haben die Schüler*innen gemerkt, dass lernen unabhängig vom Fach abläuft und sich an Interessen ausrichtet. Das Spannende war dann, als ich später mit chemischen Symbolen begonnen hatte, dass ein Schüler fragte, wie sich denn Sprache entwickelt habe. Ich wollte idiotischerweise gerade die Antwort geben, als eine Schülerin sagte: „Das hat er doch gerade erklärt. Wenn du eine Frage hast, dann mach dich doch schlau und erzähl’ es uns nächste Stunde.“ Daraufhin sagte er: „Stimmt, du hast recht.“ Jetzt möchte er in der nächsten Stunde kurz und knapp vorstellen, wie sich Sprache entwickelt hat.

Das ist toll! Auf welche Probleme stößt du, wenn du solche Freiräume ermöglichst?
Ich würde sie nicht Probleme nennen, sondern ich stoße auf Fragen und die sind erst mal spannend. Zeitgemäße Bildung bedeutet ja auch Unterricht neu zu denken. Ich möchte den Schüler*innen ja nicht Wissen in den Trichter schütten, sondern, dass sie sich selbst Aspekte erarbeiten. Der Lernprozess funktioniert dann, wenn die Fragestellungen die Fragestellungen der Schüler*innen sind. In der Regel versuche ich Impulse zu setzen und beobachte dann, wohin sich der Unterricht entwickelt. Das heißt, ich habe keine Angst vor Kontrollverlust und dadurch keine Probleme. Über Coding ab der Grundschule und wie das gelingen kann
Maxim Loick - Mitgründer der Calliope gGmbH und des CoderDojos Bonn im Interview

Nach unserem Interview mit Maxim von Calliope ist eine Diskussion auf Twitter entstanden, in der es um den zu frühen und zu breiten Einsatz von digitalen Tools im Unterricht ging. Welche Meinung hast du zu diesem Thema?
Ich weiß nicht, ob dieses Problem existiert. Letztendlich muss es einfach passen und das ist immer abhängig von konkreten Anwendungsfällen. Das lässt sich also nicht verallgemeinern. Ich finde aber den Ansatz von Calliope super, zu sehen, dass die aktuellen Entwicklungen eine Mündigkeit im IT-Bereich notwendig machen. Diese Mündigkeit brauchen wir, um uns über Netzneutralität und ähnliche politische Themen eine Meinung bilden zu können. Zeitgemäße Bildung an dieser Stelle ist aber auch, dass wir die Schüler*innen einfach mal Fragen, worauf sie Bock haben. Letztendlich weiß niemand, was in Zukunft alles wichtig ist. Es gibt diese Unsicherheit. Deswegen müssen wir den Unterricht auf aktuelle Themen ausrichten und dann wieder ändern, wenn diese Themen an Aktualität verloren haben. Es macht keinen Sinn, einen Bildungsplan zu entwickeln, der über zehn Jahre lang gültig ist.

Heißt das, dass die Lehrenden und ihre Schüler*innen dann selbst verantwortlich sind, was auf den Lehrplan kommt?
Ich tappe selber im Dunkeln und handele nach dem Trial and Error Prinzip. Natürlich macht es Sinn, bestimmte Ziele abzustecken und ein Basiswissen zu definieren. Langfristig werden aber viele althergebrachte Unterrichtsinhalte verschwinden. Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn wir den Schulen freie Hand lassen würden, sie einen super Job machen würden.

„…es braucht Räume, in denen zeitgemäße Bildung erfahren werden kann, damit ein Umdenken entsteht.“

Bei edulabs geht es um konkrete und freie Bildungsmaterialien, mit denen zeitgemäße Bildung gelingen kann. Kannst du für deine Unterrichtsfächer besondere Materialien oder Konzepte empfehlen?
Ich glaube nicht, dass es mit Inhaltlichem funktioniert. Sondern es braucht Räume, in denen zeitgemäße Bildung erfahren werden kann, damit ein Umdenken entsteht. Das sind beispielsweise unsere Barcamps, in denen ich die Erfahrung gemacht habe, dass sie sehr viel auslösen. Mein aktueller Ansatz ist also, Lehrende, die mit dem zeitgemäßen Bildungsansatz noch nicht so viel anfangen können, in zeitgemäße Unterrichtssituationen zu bringen.

Wann kommen dann OER zum Einsatz?
Als erstes muss ein Umdenken stattfinden, ein sich Lösen von den bisherigen Strukturen. Der zweite Schritt ist dann, dass die Notwendigkeit erkannt wird und daraus der Wille entsteht, etwas zu ändern. Erst wenn die beiden vorherigen Prozesse durchlaufen wurden, können zeitgemäße Bildungsmaterialien zum Einsatz kommen.
Ein Beispiel, was ich gerne bringe, ist Snapchat Storytelling. Dazu habe ich auch ein Artikel in meinem Blog veröffentlicht. Schüler*innen haben bei mir die Chance, Referate als Snapchat Storys umzusetzen. In Bezug auf zeitgemäße Bildung geht es darum, dass sie ein Tool nutzen können, das die Schüler*innen kennen, das sie jeden Tag nutzen. Inspiriert dazu hat mich ein Blogartikel von Patrick Breitenbach. Die Grundidee dahinter ist, dass sich die Schüler*innen ein Thema ausdenken, welches sie erst mal durchdringen müssen, es dann in seine Bestandteile zerlegen, um es über Snapchat neu zusammenzusetzen und präsentieren zu können. Denn Snapchat erlaubt nur sehr kurze Darstellungen, weswegen eine Geschichte in viele Einzelbestandteile zerlegt werden muss. Dafür überlegen sich die Schüler*innen ein Storyboard. Am Ende ist die Geschichte, die dabei entsteht, gar nicht entscheidend, sondern der Prozess, weil sie durch diesen unfassbar viel gelernt haben. Und damit meine ich nicht nur inhaltliche Aspekte, sondern auch Dinge, wie freies Sprechen oder das Vermögen sich selbst zu reflektieren.

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